Was ist Kunst im Sozialen und was Sozialkunst?

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Kunst im Sozialen

Die Kunst im Sozialen ist die Kunst in einem sozialen Zusammenhang. Die uns bekannten Künste (Architektur, bildende und darstellende Kunst, Musik, Dichtung) werden in den gesellschaftlichen Zusammenhang hineingestellt, um dort mit Installationen und Werken eine gesellschaftsreflektierende oder -kritische Wirkung zu erzielen. Sie werden in diesem sozialen Feld dargestellt, entwickelt und entfalten ihre Wirkung darin. Künstlerische Fertigkeiten, kreatives Tun und die Erfahrung ästhetischer Prozesse werden dabei zu einem wirksamen pädagogischen, therapeutischen und sozialen Medium, und diese Mittel spielen in der Entwicklung von Kreativität, innerer Wendigkeit und Flexibilität sowie zur Heilung eine wichtige Rolle. Die Grenzen zur Sozialkunst (s.u.) sind für mich fließend. – Für dieses Begriffsverständnis habe ich Gedanken von Aliaksandr Kavaliou und von Alfons Limbrunner miteinander verbunden. Quellen siehe ganz unten.

Und was ist für mich Kunst ganz allgemein? Für mich ist Kunst das bewusste Abweichen vom Alltäglichen, der gezielte Regelbruch, die gewollte Irritation der bestehenden Ordnung. (Achtung: Für mich ist damit noch nichts über die Lebensdienlichkeit oder Gemeinwohlrelevanz dieses oder jenes künstlerischen Aktes ausgesagt.)

Sozialkunst (Soziale Kunst)

Wovon gehe ich bei diesem Begriff aus?

Der soziale Zusammenhang unter den Menschen hat sich von großfamiliären Wildbeutergruppen über Stämme und Religionsgemeinschaften zu Staaten und bis zu dem entwickelt, was wir heute vorfinden: vielfältige „thematisch“ orientierte Beziehungsnetze in unterschiedlichen Zusammenhängen (Beruf, Hobbys und Interessen, Ziele und Anliegen) von lokal bis global, bei relativ geringer Überschaubarkeit und umgekehrt großer Anonymität in einer Masse. Parallel dazu verlief eine stufenweise Individualisierung der Persönlichkeit. Viele früher noch dominante Zusammenhänge (Nachbarschaft, Religion, Nation) schwinden in der westlichen Gesellschaft in ihrer Bedeutung, sind mehr oder weniger in Auflösung oder Neuorientierung begriffen. Angst, Ohnmacht und Orientierungslosigkeit sind weit verbreitete Folgen, weshalb wir andererseits auch starke rückwärtsgewandte Entwicklungen beobachten können, die die alten überkommenen Orientierungen wiederbeleben wollen. Das in der Masse vereinsamte Individuum ist nun herausgefordert, nach seinen Interessen und Neigungen neue soziale Formen aufzubauen. So finden wir heute ein Nebeneinander von vielfältigen alten und neuen Formen. Unsere Bildung unterstützt uns da im Allgemeinen noch nicht gut. Sie ist noch überwiegend additive Wissensaufnahme.

Menschen sind oft hin- und hergerissen zwischen einerseits sowohl Verbundenheit / Einbindung (für ihre Sicherheit, Geborgenheit und Orientierung) und andererseits freie Entfaltung ihrer Individualität (für ihre Selbstbestimmung bzw. Autonomie). Oft flüchten wir von dem einen Extrem in das andere. Meist sind diese Fluchten geprägt durch unsere Verlustängste – etwa durch die Angst vor dem Verlust der Sicherheit oder die Angst vor dem Verlust der Autonomie.

Was ist für mich Sozialkunst?

Im künstlerischen Akt verbinden sich beide vermeintlichen (komplementären) Gegensätze zur neuen Form, in der sie keinen Widerspruch mehr bilden: Das Gesetz wird Grundlage für die freie Gestaltung. Was beim Hausbau klar ist, dass nämlich alle Gestaltung sich in die Gesetze der Statik einfügen müssen, ist bei den anderen Künsten schwer zu erkennen, da falsch angewendete Gesetze nicht augenblicklich zum Zusammensturz führen. Sozialkunst gestaltet das soziale Leben, die zwischenmenschlichen Zusammenhänge bzw. wirkt auf sie gestaltend ein. Sozialkunst ist der bewusste Umgang der Menschen miteinander und das Gestalten sozialer Räume und Prozesse. Das geht ohne spezielle Medien, nur mit dem Menschen selbst, also mit den Menschen für die Menschen.

Was will demnach Sozialkunst?

Es geht um die Herausbildung des eigenen freien Willens, die authentische, verantwortliche Selbstbestimmung in Gemeinschaft. Soziale Kunst zeigt mir, wie ich mir selbst und dem Anderen dabei helfen kann. Indem ich den anderen Menschen und die Welt in ihrem Wesen erfasse. Durch die bessere Erkenntnis meines Selbst, der anderen Menschen und der Welt wächst Sicherheit in mir, dadurch auch das Vertrauen in mich selbst, die anderen Menschen und die Welt. Hierdurch entsteht eine größere Freiheit, in welcher sich meine Individualität und die der anderen entfaltet.

Wie macht Sozialkunst das?

  • Die Menschen sind auf ihrem Weg aus der Abhängigkeit in die Freiheit unterschiedlich weit. Zur Sozialen Kunst gehört es, einen Rahmen bereitzuhalten, der dem jeweiligen Stand des Einzelnen in seiner Entwicklung gerecht wird. Sozialkunst ist Aufklärung in ihrer besten Form: Sie verhilft Menschen zur Einsicht, dass sowohl die egoistische, als auch die altruistische Haltung Teil der menschlichen Natur sind, die nicht durch Zwang oder ideologische Überzeugung auszuschalten sind. In ihrer Reinkultur wirken beide jedoch antisozial. Vermeintliche Gegensätze wie diese werden zur neuen Form verbunden, gehen in ihr auf, bilden keinen Widerspruch mehr: Das Gesetz (bzw. die Struktur) wird Grundlage für die freie Gestaltung. Dazu gehört aber auch das Üben. Ich muss die Dinge täglich machen, in meine alltäglichen Abläufe integrieren, sonst bleiben sie nur Idee, nur dann nehmen sie bewusst Gestalt an.
  • Sozialkunst ermöglicht echte Begegnung der Menschen untereinander, indem sie mehr oder weniger unkonventionelle Rahmenbedingungen setzt. Sie kann Strukturen vorgeben, die helfen, dass die Aufmerksamkeit auf sich selbst und die anderen Menschen oder die Mitwelt oder bestimmte Aspekte des Lebens (Denkens, Fühlens und Tuns) und „das Dazwischen“ gerichtet wird. Dadurch wird eine intensive Verbindung geschaffen zu dem, was gerade betrachtet wird. (Dazu ein ganz kleines Beispiel aus dem Improvisationstanz: Eine/e Tänzer/in wählt einen Körperteil, der beim Tanzen alle eigenen Bewegungen anführt, bspw. die rechte Hand. Der Fokus kann dann im nächsten Schritt auch noch auf die Verbindung mit einem anderen Menschen gesetzt werden, bspw. auf den gleich bleibenden Zwischenraum zwischen den beiden Händen zweier TänzerInnen, die sich gar nicht berühren müssen.)
  • Auf diese Weise kann Sozialkunst ermöglichen, dass Konventionen abgelegt, Konditionierungen aufgeweicht, Glaubenssätze in Frage gestellt, Vorurteile hinterfragt und ggf. aufgegeben werden und Neues erkannt und entwickelt wird.
  • Sozialkunst bietet gegenseitige Hilfe zur persönlichen Entwicklung. Es ist die Verwirklichung der „Augenhöhe“ als dem höchsten Prinzip menschlicher Begegnung. Wir sind gemeinsam und bewusst unseres Selbstes unterwegs. Unter dieser Voraussetzung gestattet mir die oder der Andere, ihr/ihm Anregungen zu geben, und ich erlaube mir ebenfalls die Offenheit, die andere oder den anderen in meine Bewegung eingreifen zu lassen.
  • In den noch vorhandenen und relativ stark wirksamen Zusammenhängen (Schule, Ausbildung, Beruf und Nachbarschaft/Quartier) können mit Sozialkunst Möglichkeiten entwickelt werden, die im Vertrauen auf die Selbstständigkeit der Persönlichkeit diese fördern. Zum Vertrauen in die Individualität gehört auch die Akzeptanz von Einseitigkeiten. Starke Individualitäten werden mit Sicherheit weniger Schaden in der Gesellschaft verursachen, als geschwächte, resignierende, abhängige Menschen, und sie werden ihre Produktivität der Gemeinschaft zur Verfügung stellen.

Dieses Begriffsverständnis ist ein Amalgam. Ich nutze im wesentlichen Gedanken und auch komplette Formulierungen der Schule der Sozialen Kunst der Projektfabrik Witten, reichere sie mit Ideen von Aliaksandr Kavaliou, Alfons Limbrunner und Hans Wagenmann an und füge meine eigenen Überlegungen ein.

Quellen:

  • Aliaksandr Kavaliou: Anthropos – der entgegen Gewendete. Selbstreflexion und Entwicklung.“ S. 37. zit. nach http://sozialekunst.eu (Webseite von Aliaksandr Kavaliou), abgerufen am 3.1.2019.
  • Alfons Limbrunner (2017): Das Atelier ist zwischen den Menschen. in: die Drei 6/2017, S. 102-104.
  • Schule der sozialen Kunst (ohne Jahr): Gedanken zur Voraussetzung und Entwicklung der Sozialen Kunst. https://www.die-schule.org, abgerufen am 3.3.2018. (Die Schule der sozialen Kunst ist eine Einrichtung der Projektfabrik Witten gGmbH.)
  • Hans Wagenmann (2016): „Im Zwischen“ von Geld und Bewegung. in: Karl-Heinz Brodbeck und Silja Graupe (Hg.): Geld! Welches Geld? Geld als Denkform. Kritische Studien zu Markt und Gesellschaft, Bd. 10. S. 283-294.